Ein vierzehnjähriges Mädchen stirbt bei einem
Terroranschlag in Jerusalem. Die Mutter klagt die eigene Regierung an.
Jerusalem
Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, als Nurit
Elchanan-Peled das Familienalbum mit den letzten Urlaubsphotos aus dem
Sinai aufschlägt. Eingehüllt in ein buntes Tuch, posiert ihre Tochter
Smadar am Strand; auf einem anderen Bild spielt sie mit ihrem kleinen
Bruder. "Sie war erst vierzehn Jahre alt und naiv, sie durfte nicht
sterben", sagt die Mutter mit tonloser Stimme.
Smadar wollte am 4. September in der Jerusalemer
Ben-Yehuda-Straße ein Geschenk kaufen, als sie von einem
Selbstmordattentäter mit in den Tod gerissen wurde. Schon auf den ersten
Fernsehbildern vom Schreckensort glaubte Nurit den leblosen Körper ihres
Kindes auf einer Bahre zu erkennen. Wenige Stunden später überbrachte
die Polizei ihr dann die grausame Nachricht. Seither sucht sie mit ihrem
Ehemann Rami nach den Gründen für Smadars Tod: Einen Sinn kann sie nicht
finden.
Smadar ist eines von weit über hundert
Attentatsopfern seit dem Osloer Abkommen. Wäre sie nicht die
Enkeltochter des bekannten Generals Matti Peled und wäre ihre Mutter
nicht eine Jugendfreundin von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, dann
hätte ihr Tod wohl kaum so viel Interesse in der Öffentlichkeit geweckt.
Matti Peled, der 1948 im Kampf für die
Unabhängigkeit des Landes verwundet wurde, gehörte zu jenen israelischen
Kriegern, die früh begriffen hatten, daß die Palästinenser legitime
Rechte haben, die man ihnen nicht mit Waffengewalt verweigern kann. Nur
ein ehemaliger Held wie er konnte sich - so kurz nach dem triumphalen
Sieg im Sechstagekrieg 1967 - derartige Außenseiteransichten leisten.
Peled knüpfte Kontakte zu Vertretern der PLO, als die Regierung dies
noch streng untersagte.
Die ersten Israelis, die von Peleds Überzeugungen
beeinflußt wurden, waren natürlich die Mitglieder seiner Familie und
somit auch Nurit, die schon früh dem radikalen Friedenslager angehörte.
Der von ihr so bewunderte Vater hat ihr Denken geprägt, und auch Ehemann
Rami vertritt ähnliche Ansichten. Die beiden schickten ihre Tochter ganz
bewußt in den Arabischunterricht, die verfeindeten Nachbarn im Nahen
Osten sollten sich in Zukunft besser verstehen können.
Einmal war Smadar sogar der Star in einer
politischen Kampagne. Ihr Vater Rami Elchanan, ein Graphiker, hatte vor
den Wahlen 1988 eine Anzeige für die Friedensbewegung gestaltet, die
damals alle Zeitungen veröffentlichten. Zu einem Photo von seiner
kleinen Tochter hatte er den Text gestellt: "Smadar verdient mehr, als
der Likud anzubieten hat". Der Slogan sollte eine Antwort sein auf den
offiziellen Wahlspruch der damals regierenden Likud-Partei, der lautete:
"Nur der Likud kann".
Dies macht den gewaltsamen Tod von Smadar vielleicht
noch tragischer. Der Terror unterscheidet nicht zwischen Linken und
Rechten, zwischen Friedensbefürwortern und Friedensgegnern, zwischen
Arabern und Juden - manche der Opfer waren Araber. Smadar wurde von
islamistischen Fanatikern ermordet, die zu jenem Volk gehören, mit dem
ihre Eltern die Aussöhnung suchen. Aber Nurit beschuldigt die eigene
Regierung, ein Klima geschaffen zu haben, in dem der Terror gedeihe.
"Die Anschläge sind die Früchte der Verzweiflung und die direkte
Konsequenz unserer Handlungen in den besetzten Gebieten. Diese Regierung
tut alles, um den Frieden zu zerstören", hatte Nurit nach dem Anschlag
im israelischen Radio erklärt. Für die Mehrheit der Israelis - und für
die Regierung Netanjahu - heißt der Hauptschuldige nach solchen
Attentaten immer noch Jassir Arafat. Dem Präsidenten der
palästinensischen Autonomiebehörde mit Sitz in Jericho wird vorgeworfen,
nicht entschlossen genug gegen seine militante Opposition vorzugehen.
"Die Politik hat Smadar umgebracht", wiederholt die
48jährige Nurit im Gespräch lakonisch. Zehn Tage nach dem Anschlag sitzt
sie - sehr beherrscht im schwarzen Sommerkleid auf der Couch in ihrer
Wohnung in Rechavia - einem grünen, ruhigen Jerusalemer Stadtviertel -
und erzählt die Geschichte ihrer Familie. An der Decke dreht sich leise
ein Ventilator, während draußen langsam die Sonne untergeht. Die
Schwarzweißphotos von Smadar und ihrem Großvater, die nebeneinander an
der Wand hängen, dominieren den Raum.
Das Gespräch kommt auf Nurits erwachsene Söhne, die
beide ganz anders denken als ihre Eltern. Sie absolvieren gerade ihren
Militärdienst, auf eigenen Wunsch in Kampfeinheiten. Nurit, die an der
Hebräischen Universität in Jerusalem Pädagogik unterrichtet,
philosophiert darüber, auf welche Weise bestimmte Botschaften in der
Familie weitergegeben werden. Ihr sei bewußt geworden, daß sich manche
Dinge gar nicht verbal vermitteln ließen. "Was zwischen den Zeilen
steht, ist meist wichtiger."
Elik, der älteste Sohn, hatte sich sogar dem
ausdrücklichen Wunsch seines Großvaters widersetzt, vor dem Armeedienst
ein Studium zu beenden. Die Armee brauche gebildete Leute, lautete sein
Argument. Zudem hatte Matti Peled kurz vor seinem Tod im Frühjahr 1995
noch gehofft, daß es in Israel ohnehin bald nur mehr eine Friedensarmee
geben würde. Elik aber bewarb sich, ohne es seinem Großvater je zu
sagen, in einer Eliteeinheit. Um seine Chancen bei der Aufnahmeprüfung
zu steigern, nannte er familiäre Gründe - die Offizierslaufbahn seines
Großvaters -, die seine starke Verbindung zum israelischen Militär
erklärten. Dieses Abwägen zwischen Verteidigung und Vertrauen ist
typisch für das Denken fast aller Israelis, auch für die Haltung Nurits.
Als sie noch ein Kind war, hatte sie einem ganz
anders eingestellten Jungen wie Benjamin Netanjahu beim Spielen nicht
den Rücken gedreht. Nurit kennt den heutigen Regierungschef, seit er
vierzehn Jahre alt ist. Zwar lebte er zu jener Zeit mit seinen Eltern in
den Vereinigten Staaten, aber er verbrachte jeden Sommer in Israel. "Er
vertrat damals schon extreme Ansichten, aber wir bewunderten seine
Reife", erinnert sich Nurit.
Durch ihre Vermittlung hat Benjamin Netanjahu später
seine erste Frau Mikki kennengelernt. Die Ehe ging allerdings bald in
die Brüche. Auch Mikki hat danach wieder geheiratet; ihr jetziger
Ehemann besucht an diesem frühen Abend gerade die Familie
Elchanan-Peled. Als "Rechter", wie er sich selbst schmunzelnd nennt,
wolle er sich dafür einsetzen, daß in Jerusalem demnächst ein kleiner
Park in Erinnerung an Smadar eröffnet wird. Die Tatsache, daß sie immer
sehr links gewesen sei, sagt Nurit, halte sie nicht davon ab, im anderen
politischen Lager Freunde zu haben.
Benjamin Netanjahu sei bis heute leider nicht
erwachsen geworden. Nurit bestreitet allerdings entschieden, den
Premierminister selber für die Bomben verantwortlich gemacht zu haben,
als er nach dem Anschlag bei ihr zu Hause anrief. Nein, sie habe ihn
nicht persönlich beschuldigt. Sie habe ihn lediglich gefragt: "Was hast
du getan?" Darauf antwortete er, daß er alles getan habe, was er konnte.
"Dann errichte eine Mauer zwischen uns und denen", forderte Nurit. Der
Regierungschef entgegnete ihr, genau das versuche er gerade. Damit war
das Zwiegespräch zu Ende.
Den Palästinensern gibt Nurit keine Schuld am Tod
ihrer Tochter. Denn nur von der israelischen Regierung, nicht von ihnen,
könne sie verlangen, daß sie "unser Leben schützen". Aus diesem Grund
tritt sie für die Schaffung eines Palästinenserstaats ein. Genauso wie
einst ihr Vater, als ihm noch keiner zuhören wollte.
Mit klarem Blick hatte Matti Peled schon früh die
Schwachpunkte des Osloer Abkommens kritisiert. Falls es keinen eigenen
Staat für die Palästinenser geben werde und die Israelis ihre Nachbarn
weiterhin erniedrigten, würde sich der ganze Friedensprozeß zum
Schlechten wenden, schrieb er in seinem letzten Artikel "Requiem für
Oslo". Darin kritisierte er, daß das Vertragswerk zum Scheitern
verurteilt sei, weil es zu unausgegoren und letztlich vom guten Willen
zu vieler Leute abhängig sei.
Diesen Artikel verzieh ihm sein langjähriger Freund
Jitzhak Rabin nicht, obwohl Matti Peled schon schwer erkrankt dem Tod
entgegensah. Auch seiner Beerdigung blieb Rabin demonstrativ fern.
Neben der letzten Ruhestätte ihres Großvaters im
Kibbuz Nachschon ist auch die kleine Smadar zu Grabe getragen worden.
Viele prominente Politiker erwiesen ihr die letzte Ehre. Schimon Peres
hielt mit tränenerstickter Stimme eine Ansprache. Gekommen waren auch
ein Siedlervertreter und ein hochrangiges Mitglied von Arafats
Autonomiebehörde. Der palästinensische Vizeminister Anis Al Qaq betonte
in seiner Rede die "Ironie", daß die Attentäter eine so "großartige
Familie" getroffen hätten.
Diese ungewöhnliche Zusammenkunft an Smadars Grab
hat den ersten Teil von Matti Peleds Prophezeiungen in Erfüllung gehen
lassen: Juden und Araber können im Nahen Osten miteinander leben, sogar
ihre Opfer gemeinsam begraben, ohne sich gegenseitig zu bekämpfen.
Jetzt kommt es "nur" noch darauf an, auch den
zweiten Teil der Botschaft des einstigen Kriegshelden in die
Wirklichkeit umzusetzen und eine Trennung der beiden Völker in Respekt
und Würde zu vollziehen. Die Palästinenser sollen endlich in ihrem
eigenen Staat leben können. So, wie sich das auch Nurit stets gewünscht
hat.
Wenn Smadars Tod das Land nur einen winzigen Schritt
in diese Richtung bewegen könnte, sagt Vater Rami, "vielleicht wird er
dann ja nicht ganz vergeblich gewesen sein".
(C)
DIE ZEIT
39/7 von Gisela Dachs
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