Das
Antwortschreiben:
Sehr geehrte Damen und Herren,
eine Frau stellte mir folgende Frage:
- Ihre Mutter sei gestorben. Sie habe keinen
nahen männlichen Verwandten, der für ihre Mutter Kaddisch sagen könnte. Sie
möchte gerne selbst das Kaddisch sagen, und es würde sie sehr schmerzen,
wenn sie es nicht dürfte.
Vorbemerkung - Das Kaddisch-Gebet:
- Es ist ein
kurzes Gebet von
kaum zehn Zeilen, in vorwiegend aramäischer Sprache abgefasst.
- Der Inhalt des Kaddisch-Gebets ist eine
Hymne, die den Namen Gottes preist und die Hoffnung und den Wunsch äußert,
Gott möge Frieden über ganz Israel bringen.
- Zunächst wurde es von Lehrenden und
Lernenden nach ihrem Studium rezitiert. Im Laufe der Jahrhunderte kam der
Brauch auf, es durch Trauernde vorzutragen.
- Das Kaddisch wird heute hauptsächlich als
ein Gebet für das Seelenheil Verstorbener gesprochen. Erstmalig wird er nach
der Bestattung des Toten, danach elf Monate lang täglich und später jedes
Jahr am Sterbedatum gebetet.
Die Regeln für den Kaddisch-Jatom, Kaddisch
des Waisen:
- Der Kaddisch-Jatom wird von einem männlichen
Verwandten des Verstorbenen gesagt.
- Er wird nur in der Anwesenheit eines Minjan
(ein öffentliches Quorum von mindestens zehn Männern) gesagt. Am offenen
Grab wird er auch ohne die Anwesenheit eines Minjan gesagt.
- Er wird in der Regel nur von einer Person
vorgetragen. Zwar dürfen auch andere Trauernde das Gebet mitsprechen. Es
wird empfohlen, dass diese es leise sprechen, damit die Anwesenden genau
hören können, wann sie das Amen sagen sollen.
Antwort:
- Die Fragende in unserem Fall ist eine
orthodoxe Jüdin, mindesten hält sie sich an den orthodoxen traditionellen
Ritus.
- Nach einhelliger Meinung der traditionellen
orthodoxen Rabbiner darf eine Frau in der Synagoge oder sonst öffentlich das
Kaddisch nicht laut vortragen.
- Eine Frau darf das Kaddisch in der Synagoge
sprechen, wenn ein Mann ihn laut rezitiert und sie leise für sich mitliest.
- Es werden einige Gründe hierfür genannt,
jedenfalls, so die Orthodoxie, hat es nichts mit einer Diskriminierung der
Frau zu tun, sondern mit den unterschiedlichen Aufgaben der Geschlechter.
- Für Mitglieder von liberalen oder
Reform-Gemeinden ist diese Frage irrelevant. Nach ihrer Einstellung haben
Frauen sehr wohl das Recht, die Funktionen der Männer im religiösen Leben
(wie eines Rabbiners, Kantors, Vorbeters) einzunehmen und selbstverständlich
auch öffentlich das Kaddisch vorzutragen.
Tradition – Reformbestrebungen
- Auch in dieser Frage, wie bei vielen
anderen, tritt die Diskussion zwischen den Hütern der Tradition und den
Reformen anstrebenden Gruppen zutage. Diese Diskussion währt nun seit fast
zweihundert Jahren und wird sicherlich nie beendet werden; eine Entscheidung
zwischen beiden Richtungen ist nicht zu erwarten.
- Ohne in dieser Diskussion Partei ergreifen
zu wollen, kann jenseits einer Bewertung festgestellt werden: Das
traditionelle Judentum, die Orthodoxie, hat das Überleben der Juden als
einer religiösen Gemeinschaft und folglich das Überleben des jüdischen
Volkes in den Verfolgungen der letzten Zweitausend Jahre ermöglicht.
Mit freundlichen Grüßen
Bar Rav Nathan |