Das
Antwortschreiben:
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Frage lautet wie folgt:
Kann es sein, dass mit dem Kol Nidre-Gebet der
Mensch sich für die Sünden des folgenden Jahres bereits im Vorhinein
vergeben lassen kann?
Antwort:
Die Antwort setzt die Erörterung einiger
Begriffe voraus.
Was bedeutet das Wort Nidre (= Gelübde) in der
jüdischen Religion und im jüdischen Recht?
Folgende Merkmale hat dieser Begriff:
- Eine freiwillige Verpflichtung, die eine
Person auf sich nimmt. Es ist eine Art Eid gegenüber Gott, wobei die
Nichteinhaltung des Versprechens die Bestrafung durch Gott nach sich ziehen
kann.
- Inhalt der Gelübde kann die Entsagung von
den Freuden des Lebens sein, z.B. Verzicht auf Weingenuss, ein enthaltsames
Leben zu führen oder aber auch zusätzliche Schenkungen für das Heiligtum zu
leisten.
- Die Institution des Gelübdes ist in der Tora
begründet und der Talmud hat dieser Einrichtung einen großen Diskussionsraum
gegeben.
- Die Art der Formulierung des Gelübdes wird
im Talmud breit erörtert und ist offensichtlich kompliziert, um das Eingehen
eines Gelübdes zu erschweren.
- Die Möglichkeit der Auflösung des Gelübdes
ist ebenfalls kompliziert.
- Mit aller Deutlichkeit wird an verschiedenen
Stellen des Schrifttums der Gedanke ausgedrückt, dass diese religiöse
Sonderbindung abgelehnt wird, weil die freiwillige Entsagung vom erlaubten
Genuss eben menschenunfreundlich ist. Rabb. Samuel bezeichnet deshalb den
Gelobenden als Sünder.
Was ist das Kol Nidre-Gebet?
- Es ist das Einleitungsgebet zum
Versöhnungstag (Jom Kippur), das am Vorabend des Fasten- und Gebettages beim
Gottesdienst in der Synagoge vom Vorbeter (Kantor) gesungen wird.
- Der Inhalt, bestehend aus ca. dreißig
Worten, ist eine Nichtigkeitserklärung für alle im Laufe des vergangenen
Jahres übernommenen Gelübde oder aber auch der Gelübde, die im kommenden
Jahr gemacht werden könnten.
- Das Gebet entstand vermutlich gegen Ende der
Talmud-Zeit, zur Zeit der Gaonim, der geistigen Oberhäupter im 8. Bis 11.
Jh. Obwohl das K.N. bei den Gaonim nicht unumstritten war, fand es im Laufe
der Zeit Aufnahme in die Liturgie.
- Die Nichtigkeitserklärung bezieht sich
ausdrücklich auf Versprechungen, die man Gott gegenüber gemacht hat.
- Deshalb ist es auch ein schöner Brauch, dass
man noch vor dem Kol Nidre-Gebet eine Erklärung leise zu sich selbst
spricht, in der man seinen Mitmenschen den von ihnen verursachten Ärger oder
Kummer verzeiht und gleichzeitig Gott bittet, er möge die anderen dazu
bewegen, das Gleiche zu tun.
- Während sich die Gelübde, die nachträglich
oder im Voraus für nichtig erklärt werden, auf die eigene Person beziehen,
ist die Aufhebung einer Verpflichtung gegenüber anderen durch die
Bestimmungen des jüdischen Rechts ausgeschlossen. Vermutlich war das der
Grund, weshalb der Gaon Rabb. Amram (9. Jh.) das Beten des K.N. als einen
unsinnigen Brauch bezeichnete.
- Es ist nicht ausgemacht, weshalb das K.N.
Eingang in die Liturgie gefunden hat. Der Text hat mit dem eigentlichen
Gedanken des Versöhnungstages nicht viel zu tun. Manche vermuten, es sei die
getragene Melodie, die den Ernst der Stunde in ergreifender Weise zur
Empfindung bringt.
- Folgende Erklärung liegt nahe: Manche in
Bedrängnis geratenen Menschen pflegen sich voreilig Entsagungen
aufzuerlegen, die sie dann nicht einhalten können oder auch vergessen. Um
vor dem Beginn dieses "schrecklichen" Tages, an dem das Schicksal des
Menschen für das kommende Jahr entschieden wird, rein von jeder
Verpflichtung gegenüber seinem Schöpfer vor ihm zu stehen und ihn in Reue
und Gnade zu bitten, wurde wahrscheinlich dieses Gebet verfasst.
Die Rolle dieses Gebets im Streit mit den
Christen:
- Es ist hier nicht der richtige Platz für
eine Antisemitismus-Analyse. Jedoch ist es notwendig, hier einige
grundsätzliche Erkenntnisse anzuführen:
- Der Antisemitismus beruht auf einem
Vorurteil. Die Gründe für den Antisemitismus wie auch für ein Vorurteil sind
nicht beim Opfer, sondern beim Antisemiten, dem Täter zu suchen.
- Wie auch sonst bei einem Vorurteil sucht der
Täter eine Begründung für seinen Hass. Da es für ein Vorurteil keine
Begründung geben kann, wird sie vom Täter konstruiert.
- Jahrhundertelang diente das Kol Nidre-Gebet
manchen Christen dazu, die Juden der Untreue, der Unzuverlässigkeit, der
Falscheide zu verdächtigen und zu beschuldigen mit der Begründung, die Juden
würden sich von ihren Versprechungen und Eiden im Vorhinein und Nachhinein
lossagen.
- Warum gerade dieses Gebet dafür herhalten
musste, kann mit dem schlechten Gewissen derjenigen Christen zusammenhängen,
die sich durch die Beichte und Bußleistungen von ihren Sünden befreien, die
sie dann doch wieder begehen. Sie bezichtigen die Hassobjekte der
Scheinheiligkeit und Untreue, die sie bei sich nicht sehen wollen. Da kommt
die Funktion der Projektion zum Vorschein: Die eigenen schlechten
Eigenschaften und bösen Handlungen werden auf den Gegner projiziert, und er
wird mit diesen belastet.
- Wenn neuerdings ein amerikanischer
religiöser Fundamentalist dieses Gebet als einen der Gründe für den
Judenhass predigt, so greift er in eine alte Klamottenkiste, weil ihm in dem
pluralistischen liberalen Amerika nichts Besseres eingefallen ist.
Nachbemerkung:
Jahr für Jahr bereue ich am Jom Kippur
zusammen mit den anderen Mitgliedern meiner Synagogengemeinde die Taten, die
wir laut Gebettext verschuldet haben: "Wir haben betrogen, geraubt,
ausgebeutet, rebelliert, verflucht, wir waren abscheulich, haben andere in
die Irre geführt, haben sie vom rechten Weg abgeleitet" und noch vieles
mehr. Ich kann jedoch versichern, dass keiner der mir bekannten Juden in
meiner Umgebung sich tatsächlich so verhalten hat.
Mit freundlichen Grüßen
Ben Rabbi Nathan |