Sehr
geehrte Damen und Herren,
in Anlehnung an meinen Beitrag „Ein Christ
will zum Judentum übertreten“ hat mir ein ehemaliger Christ seine
Ratlosigkeit beschrieben und um meine Meinung gebeten.
Da die Fragen einen allgemeinen Charakter
haben und nicht auf ehemalige Christen beschränkt sind, sondern viele
Christen, Juden und Andersgläubige bewegen, will ich einen Versuch zur
Klärung wagen.
Um was handelt es sich?
- Ein Monotheist findet in der christlichen
Kirche keinen passenden Rahmen, weil diese nicht den reinen Monotheismus
praktiziert.
- Der Übertritt zum Judentum ist mit
erheblichen Schwierigkeiten verbunden.
- Strickt man sich seinen eigenen Glauben
zurecht, wie soll man ihn ohne Gemeinschaft ausüben, woran soll man sich
orientieren?
Antwort:
Da ich im Judentum verankert bin und (zu
meinem Leidwesen) von anderen Religionen wenig weiß, kann ich nur auf meine
Sichtweise als Jude zurückgreifen.
Das Judentum ist, wie bereits in meinem ersten
Beitrag beschrieben, eine Gesetzesreligion. Es geht um die Einhaltung der
biblischen und rabbinischen Religionsgesetze. Obwohl nach dem Glauben nicht
ausdrücklich gefragt wird, gibt es die von Maimonides formulierten dreizehn
Glaubenssätze, die vom jüdischen Volk als verbindlich angenommen wurden.
Bereits in meiner frühen Jugend haben ich eine
Beobachtung gemacht, die sich auch in späteren Jahren bestätigte, dass
- in den Kreisen eines orthodoxen Rabbiners -
ob bei den Verwandten, Bekannten, Nachbarn - sich nicht alle Gläubigen oder
Frommen immer in gleicher Weise streng an die Gesetze gehalten haben. Ich
meine nicht die wirklich wichtigen Tora-Gesetze wie koschere Speisen (also
kein Verzehr von Schwein udgl.) oder die Einhaltung der Schabbat-Regeln
(keine Arbeit, kein Fahren udgl.) und noch andere, die ich hier nicht
aufführen kann. Ich meine die leichteren Gebote wie das Aufsagen von allen
Segenssprüchen (über Speisen, Ereignissen etc.) oder das Beten von allen
Gebeten zu den vorgeschriebenen Zeiten. Wobei hier bereits die (fast
entscheidende) Frage in diesem Zusammenhang auftaucht, was bedeutet
„strenge“ oder „leichte“ Gebote? Wer entscheidet und wie entscheidet man
darüber?
Diese Fragen kann und will ich hier nicht
behandeln. Sie sollen offen bleiben und sollten lediglich vermitteln, dass
selbst bei den Anhängern einer bestimmten Tradition (hier die orthodoxe),
eine etwas modifizierte Praxis in der Einhaltung der Gebote durchaus möglich
ist. Schon gar nicht zu denken an (zum Beispiel) die Anhänger des liberalen
Judentums, die - man könnte fast sagen generell - ein anderes Verständnis
von der Auslegung der Religionsgesetze haben.
Ein weiteres Beispiel: Betrachte ich die
Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Frankfurt, insbesondere diejenigen, die
am Schabbat in die Große Synagoge zum Gottesdienst kommen, kann ich aus
persönlicher Kenntnis sagen, dass ein beträchtlicher Teil sich zwar für
orthodox hält, jedoch oft anders handelt. Ich meine dies nicht als Kritik,
und selbst der Gemeinderabbiner, der als ein strenge orthodoxer Jude bekannt
ist, akzeptiert dies, unter der zum Sprichwort gewordenen talmudischen
Einstellung, „Ein Israelit, auch wenn er gesündigt hat, ist er dennoch ein
Israelit“ (Syn. 44, a).
- Soviel in Kürze zur praktischen Ausübung des
jüdischen Glaubens. Nun zu den erwähnten Glaubenssätzen. Tatsächlich spielen
die dreizehn Glaubensbekenntnisse (im Christentum nennt man das Dogmen, die
die Juden jedoch nicht kennen) eine noch weniger wichtige Rolle im
religiösen Alltag als die Gebote. „Natürlich“ glauben alle Juden an diese
dreizehn Sätze, die jeweils an den Feiertagen in der Synagoge vorgetragen
werden, nur gibt es da einige Formulierungen, mit denen viele Juden nichts
anzufangen wüssten, oder anders ausgedrückt, die sie nicht ganz verstehen.
Nehmen wir als Beispiel den letzten Satz: Der
Glaube an die Auferstehung der Toten. Es ist ein sehr gewichtiger
Glaubenssatz, würde man jedoch einen Gläubigen fragen, ob das wörtlich zu
verstehen sei, käme er wohl in Erklärungsnot. Ähnlich erginge es mit der
Frage nach der Ankunft des Messias, des Königs aus dem Geschlecht David. Ich
besitze nicht den Ehrgeiz, auf diese und andere Glaubenssätze des Maimonides
einzugehen. Maimonides war ein bedeutender Philosoph und vermutlich der
größte jüdische Theologe überhaupt. Ihn zu interpretieren ist schwierig,
jedoch was noch wichtiger ist, es ist gar nicht notwendig.
Die meisten Juden kommen ganz gut damit
zurecht, dass sie hierzu keine genau und vielleicht nicht einmal eine vage
Vorstellung haben.
Nun komme ich zur allgemeinen Frage, mit der
ich mich hier beschäftigen sollte:
Was soll ein Monotheist tun, der sich allein
in der Welt wähnt und keine Gleichgesinnten zum Gedankenaustausch und zur
kollektiven Gestaltung eines im Glauben an Gott religiösen Lebens findet?
Ich finde das jüdische „Achtzehn-Gebet“,
das täglich gelesen wird und eigentlich den Kern der Gebetsordnung ausmacht,
aufschlussreich, bedeutend und darüber hinaus auch schön, in dem Sinne, dass
es nicht nur inhaltlich die Essenz des Judentums darstellt, sondern auch
beruhigende Wirkung ausstrahlt. Ich würde jedem „Unschlüssigen“ empfehlen,
die Kapitel 3 und 4 über das Achtzehn-Gebet in dem Buch von Rabb. Donin,
„Jüdische Gebet Heute“ zu lesen. Danach würde ich vorschlagen, dieses Gebet
an einigen Samstagen in einer Synagoge während des Gottesdienstes (in der
deutschen Übersetzung) mitzulesen.
Möglicherweise wird der Betreffende dadurch
über sich selbst und über den Monotheismus mehr erfahren und eine gewisse
Orientierung gewinnen. Sollte dies nicht der Fall sein, so kann ich ihm
wenigstens eine sehr interessante Erfahrung prophezeien. Mit freundlichen Grüßen
Bar Rav Nathan |