Terra incognita - Griechenland
Lena Kalaitzi-Oflidi und Simos Oflidis:
"Neunzehnhundertdreiundvierzig nach Christus"
aus Niki Eideneier (Hrsg.): "Die
Sonnenblumen der Juden. Die Juden in der Neugriechischen Literatur".
Deutsch von Luna Steiner (Romiosini Verlag). Es liest im orf.at
Heilwig Pfanzelter.
Es war eine elendigliche Siedlung, die Siedlung Hirsch in Saloniki,
zweitausend Seelen beherbergte sie. Haim war einer von ihnen. Er war
Fischer. Und er züchtete Tauben... Etwa zwei Jahrhunderte lang galt
Saloniki als die Stadt, in der weltweit die meisten Juden lebten...
Thessaloniki, Mutter Israels
Die Juden und Griechenland
Die Geschichte der Juden in Thessaloniki beginnt
mit der Ankunft der knapp zwanzigtausend, die 1492 aus dem Reich von
Ferdinand und Isabella hinausgeschmissen worden waren. Ihnen folgten
im Jahr darauf die Juden aus dem spanisch regierten Sizilien und
Süditalien und 1497 die, deren Heimat Portugal gewesen ist. Sultan
Bejazid II. nahm die Vertriebenen gerne auf. Er wusste um die
handwerklichen und intellektuellen Fähigkeiten seiner neuen
Untertanen, die unter anderem als Gold- und Waffenschmiede,
Seidenspinner und –weber bekannt waren.
Er vertraute auf ihren Beitrag zur Gemeinschaft,
und er hatte sich nicht verrechnet: 1506 nimmt in Saloniki die erste
jüdische Druckerei auf dem Balkan ihren Betrieb auf, viele andere
folgten. Und bereits fünfzehn Jahre später galt die Stadt Saloniki,
wie sie in der Sprache der spanischen Juden genannt wurde, als
intellektuelle Hochburg des Judentums, als Zentrum der religiösen
und weltlichen Dichtung und als Hauptstadt der Gelehrsamkeit, deren
Theologen, Philosophen und Rechtsgelehrte überall in Europa
geschätzt wurden.
Die cirka tausendzweihundert Bewohner
Thessalonikis, die heute zur jüdischen Gemeinde zählen, ziehen es
vor, möglichst wenig aufzufallen.
Lob für Saloniki
1537 lobt der aus Italien stammende Samuel Uskue
seine neue Heimat, das "große Türkenreich", in dem der Sultan
Religionsfreiheit gewährt, als das "Gelobte Land" und spart nicht
mit Lob für Saloniki.
"Du bist", schreibt er, "der glaubensstarke Baum
von Thorafrömmigkeit und Arbeit, voller Blumen und beeindruckenden
Gewächsen zur Ehre Israels. Deine Erde ist fruchtbar, bewässert von
den Flüssen des Mitgefühls und der Gastfreundlichkeit. Hier ist es,
wo eine jegliche erniedrigte oder arme Seele, vertrieben aus Europa
oder von irgendeinem anderen Ort der Welt, eine Zuflucht findet. Und
du wirst sie empfangen mit der Liebe einer Mutter, Mutter des Volkes
Israel, wie einst Jerusalem in den Tagen seines Glanzes."
Selbsternannter Messias Sabbatai Zvi
Ende des 17. Jahrhunderts verliert Saloniki den
Anschluss an die geistesgeschichtlichen Strömungen Westeuropas. Der
Grund heißt Sabbatai Zvi. Er verkündete seit dem Jahr 1657, dass er
der von den Juden erwartete Messias wäre, und dass sich "die Zeit
erfüllen" würde. Er berief sich auf die Mystik der Kabbala und
weckte so erhebliche Unruhe unter seinen Glaubensgenossen. Was die
türkischen Behörden veranlasste, ihn zu verhaften und zum Tode zu
verurteilen.
Sabbatai Zvi ergriff die einzige Möglichkeit,
der Hinrichtung zu entkommen: Er konvertierte, wurde zum Muslim. Mit
ihm bekehrten sich noch dreihundert andere Familien zum Islam. Diese
Maßnahme rettete den Nachkommen, die fortan "Donmeh" genannt wurden,
Jahrhunderte später das Leben. Als es nämlich nach dem ersten
Weltkrieg zum griechisch-türkischen Krieg kam, der in der
"Kleinasiatischen Katastrophe" endete, machten die türkischen Sieger
zur Bedingung, dass alle Muslime Griechenlands mit allen Griechen
Kleinasiens "Platz tauschen" sollten. So entgingen die Donmeh der
Vernichtung durch die Nazis.
Saloniki profitierte vom Handel
Anfang des 19. Jahrhunderts gehörten die Juden
Salonikis zu den ärmsten Bewohnern der Stadt. Das änderte sich aber,
als Österreich-Ungarn in seinem "Drang nach Osten" die
Handelsbeziehungen zum Osmanischen Reich intensivierte. Vor allem
Saloniki profitierte. Der Hafen wurde ausgebaut, regelmäßige
Schifffahrtslinien entstanden, ein Telegrafenamt sowie ein
osmanisches, ein österreichisches und französisches Postamt wurden
gebaut.
Das Judentum Salonikis erstarkte und entdeckte
die europäische Moderne samt Sozialismus und Zionismus. Als 1890 ein
großer Teil des Armenviertels eingeäschert wurde, stiftete der Baron
Moises de Hirsch eine beträchtliche Summe, so dass die Siedlung
Hirsch als eine der provisorischen Siedlungen für die Ärmsten der
Armen erbaut werden konnte. Diese wurde 1943 dann zu einem Ghetto
und Konzentrationslager, in dem tausende Juden bis zu ihren
Abtransport in die Vernichtungslager dahinvegetieren mussten.
Judenviertel gekennzeichnet
Bis die ersten Deutschen in Griechenland
einmarschierten, am 9. April 1941, sah es nicht wirklich bedrohlich
aus für die Juden Griechenlands. Aber dann ging es Schlag auf
Schlag. Der "Messagero", die einzige Jüdisch-Spanische Tageszeitung
wurde eingestellt, Privathäuser und Öffentliche Einrichtungen
requiriert, unter anderem auch das von Baron de Hirsch gegründete
Jüdische Hospital. Die Jüdische Gemeinde erhielt einen neuen, den
Deutschen genehmen Vorstand.
Im Sommer 1942 hatten sich alle arbeitsfähigen
Juden zwischen 18 und 45 zum Arbeitsdienst zu melden. Im Dezember
1942 wurde der 500 Jahre alte Jüdische Friedhof eingeebnet. Am 6.
Februar 1943 wurden die Rassengesetze in Kraft gesetzt. Zwei Tage
später wurde das Tragen des Judensterns Pflicht und Judenviertel
gekennzeichnet.
Deportation nach Polen
Am 14. März hatten sich die Einwohner der Siedlung
Hirsch in ihrer Synagoge einzufinden. Rabbi Koretz informierte die
Versammelten, dass sie in Polen eine neue Heimat finden würden. Am
nächsten Morgen ging der erste Zug Richtung Polen. Die Siedlung
Hirsch war frei für den nächsten Schub zu Deportierender. Die
Zusammenarbeit der jüdischen Polizei mit den Deutschen soll sehr gut
funktioniert haben.
Es heißt, dass die Führung der jüdischen
Gemeinde Salonikis - aus Opportunismus? aus Naivität? - der Gestapo
die Archive mit den Namen aller in Griechenland lebenden Juden
gegeben hat. Wenn also Haim, die Hauptfigur der Erzählung
"Neunzehnhundertdreiundvierzig nach Christus" vermutet, dass "ein
fanatischer Rabbiner" den Juden das Tragen des Davidsterns
"eingebrockt" habe, lag er gar nicht so falsch. "Das Gerücht" weiß
von einem einzigen Würdenträger in ganz Griechenland, dem orthodoxen
Bischof von Zakynthos, der sich weigerte, eine Liste mit den Namen
von Juden abzugeben. Er überreichte dem deutschen Kommandanten der
Insel ein Blatt Papier, auf der nur sein eigener Name stand.
Von den cirka fünfzigtausend Juden Salonikis
wurden 46.061 Richtung Polen abtransportiert. Etwa Zweitausend
überlebten. Wenige kamen nach Saloniki zurück, zumal sie der Stadt
offensichtlich peinlich waren. Die cirka tausendzweihundert, die
heute zur jüdischen Gemeinde zählen, ziehen es vor, möglichst wenig
aufzufallen. Dennoch gibt es seit 1997, als Saloniki
Kulturhauptstadt Europas wurde, ein Jüdisches Museum in der Stadt.
Text: Friederike C. Raderer,
http://oe1.orf.at
Radio-Tipp
Donnerstag, 21. Februar 2008, 11:40 Uhr,
http://oe1.orf.at/highlights
Buch-Tipp
Griechenland:
Die Sonnenblumen der Juden
Eine Anthologie zum Leben und Schicksal der griechischen Juden...
Hsg. Niki Eideneier, Verlag Romiosini...
Link-Tipps
Jüdisches Museum Thessaloniki
Rebetika der Woche:
Rosa Eskenasi
Rosa Eskenasi kam in Konstantinopel (Istanbul, Türkei) auf die Welt.
Schon vor der Katastrophe von Smyrna (Izmir) kam die Familie nach
Saloniki. Die Stadt hatte in den 20er Jahren fast 40% jüdische
Einwohner...
Die Musik der städtischen Subkultur
Griechenlands:
Rebetiko
Die Volksmusik Griechenlands ist eine faszinierende
Mischung aus West und Ost, wobei sich die orientalischen Elemente
besonders in der Rebetiko-Musik finden...
Sommernachtstraum in Caesaria:
Haris Alexiou & Giorgo Dalaras im Amphitheatron
Haris Alexiou kam 1950 in Theben als Tochter von
Flüchtlingen zur Welt. 1958 kam sie nach Athen, wo sie noch heute
lebt. Hier wurde sie zum Symbol der großen griechischen
Gesangstradition und viele sehen in ihr eine Nachfolgerin der
legendären Rosa Ashkenasi, mit der sie noch 1975, kurz vor deren
Tod, auftreten konnte...
Israeli TV:
Yehuda Poliker & Haris Alexiou
Aufnahmen von den Vorbereitungen und vom Open Air
Concert in Causarea im Sommer 2008...
Im Tel Aviver Mann Auditorium:
Jorgo Dalaras & das Israelische
Philharmonische Orchester
Mi mou thimonis matia mou - oh meine Augen...
Musikgeschichte - auch in Israel:
Glykeria -
die Stimme Griechenlands
Die griechische Sängerin Glykeria, bekannt als "The Voice of
Greece", wird in Kürze ihr erstes Album in Hebräisch herausgeben,
als Geste an ihre zahlreichen Fans in Israel... Glykeria, Riki Gal,
Sohar Argow - direkt im [WinMedia-Player
- 5 min., 8MB wmv]...
haGalil.com
20-02-2008 |